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Rezension von Dominika Meindl
„Bei
all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz
unten, vom dörflichen Subproletariat hinauf in die Kaste der
Künstler und Intellektuellen, geschieht nichts, das einen glücklich
macht.“
Was
für eine ambivalente Lektüre: Man freut sich über den neuen Roman,
zugleich ist man traurig, weil es der letzte sein wird, da ist Walter
Kohl bestimmt (auch wenn ihn niemand tadeln wird, wenn er seinen
Vorsatz bricht). Wie in fast allen seinen literarischen Texten sei
auch dieser „zu 90 Prozent fiktional, zu 90 Prozent
autobiographisch“, so zitierte er die geschätzte Margit Schreiner
bei seiner Buchpräsentation im Stifterhaus.
Der
Ich-Erzähler ist in die Jahre gekommen, er hadert damit schon
deswegen, weil er wegen seines Raucherbeins lange im Krankenhaus
liegen muss. Das Zimmer teilt er mit Männern der Arbeiterklasse, die
er mit Sympathie und Befremden zugleich beobachtet. Diese Ambivalenz
prägt nicht nur die „Handlung“ des Romans – Kohl wird nicht
böse über die Anführungsstriche sein, es gibt keinen Plot,
stattdessen sehr tiefe, sehr tief empfundene Erinnerungen und
Reflexionen. Selbstverständlich von höchster literarischer Güte,
ganz in Kohls reduziertem und klarem Stil. Etwa die Schilderung der
kindlichen Enttäuschung beim Lesenlernen: „Nach ein paar Wochen
Erlernen des Alphabets verging das erste Jahr völlig ohne
Grandiosität und Geheimnis.“
Der
Erzähler erinnert sich also, und von der ersten Seite erstaunt es,
wie er trotz der unzähligen über Generationen vererbten und selbst
erfahrenen Kränkungen ein sanfter, einfühlsamer Mann hat werden
können. Bei aller Selbstironie und versuchten objektivierenden
Distanz zur eigenen Wahrnehmung wird der Schmerz sehr deutlich. „Als
Kind habe ich gelernt, für mich so wenig zu wünschen, dass es zu
den Möglichkeiten passt, die 'das Leben' einem bietet.“ Der
Erzähler wächst heran, er fremdelt mit dem Bildungsbürgertum und
lernt, seine Bluffs zu durchschauen. Wenn man etwa den „Mann ohne
Eigenschaften“ offen sichtbar aufs Nachtkästchen legt, wird man im
Krankenhaus von den Ärzten respektvoll behandelt, auch wenn man sich
wegen der ökonomisch sinnlosen Berufswahl „Autor“ kein Bett in
der 1. Klasse leisten kann.
Der
Begriff der „Klasse“ mag altmodisch klingen, aber das ist ganz im
Sinne der neoliberalen Propaganda, die uns glauben machen will, dass
sich unsere „Leistung lohne“ und es keine Grenzen gebe, wenn man
hart an sich und der Welt arbeite. Eine historische Sekunde lang war
der Sprung aus der Klasse tatsächlich möglich, dank
Kreisky-Reformen und Wirtschaftsboom – Kohls Erzähler hat davon
profitiert, und er leidet darunter, denn es seien ja nur die
„anerkennungssüchtigsten aus der Arbeiterklasse“ in den
Mittelstand aufgestiegen, an den Verhältnissen selbst habe Kreiskys
SPÖ nichts geändert. Sein eigenes politisches Bewusstsein schärft
sich schon ganz früh. Als Kind beobachtet er, wie an einem kalten
Wintertag der warm eingepackte Bauer mit seinem alten,
ausgeschundenen Knecht herumbrüllt. „Da gab es nichts, das nicht
zu verstehen gewesen wäre.“
Die
ungemeine Grobheit der Klassen von oben nach unten und untereinander
hat sich vielleicht gemindert (oder verschoben, Stichwort
„Lieferkette“ – wir haben die Ausbeutung zu großen Teilen
outgesourct), aber der dank Fleiß und Willen der Eltern ins
Stiftsgymnasium geschickte Sohn wird auch dort wieder auf seine
Herkunft zurückgeworfen. Es sind nicht die Söhne aus besserem
Hause, die ihn mobben, sondern ein sadistischer Lehrer, der ihn mit
Häme überzieht, weil sein Vater bloß „Ofenmaurer“ sei. Egal,
ob der auf Montage im Ausland gut verdient und sich Einfamilienhaus +
Audi 80 leisten kann.
„Ficken
mit dem Klassenfeind“ ist auch eine Hommage an den Vater, auf den
der Sohn lange nicht stolz sein konnte – der nun offen benannte
Zweitname „Josef“ ist auch Zeichen einer nachgetragenen Liebe. So
wie „Ein Bild von Hilda als toter Mensch“ ein ans Herz gehender
Nachruf auf die Mutter ist.
Kohl
beschreibt das Verschwinden der Arbeiterklasse, die Verlogenheit des
bürgerlichen Wohlstands und die permanente Sorge, selbst zum Spießer
zu werden. „Die Widersprüche häufen sich.“ Und: „In Wahrheit
bin ich wütend über mich selbst und wegen des Schmerzes, den ich
spüre. Es tut weh, wenn man seine Klasse hasst.“
Es
liest sich derzeit besonders spannend, welch üble Rolle die Bauern
in Kohls Roman (und im dörflichen Gefüge) spielen. Es ist
kompliziert geworden. Die konventionellen Bauern (nicht nur in
Schönering stellen ihre Vierkanter immer noch Wagenburgen der FPÖ
dar) kämpfen dafür, mit subventionierten Diesel Glyphosat auf ihre
staatlich geförderten Zuckerrüben sprühen zu dürfen. Die kleinen
und mittleren Landwirtschaften sind schon in den 1970ern in den
Mühlen der Agrarindustrialisierung zermalmt worden, die Suizidrate
ist in kaum einer anderen Branche höher. Die Arbeiterklasse wählt
zu absurd hohen Anteilen FPÖ, die ihnen überall, wo sie die Finger
an die Schalthebel kriegt, die Sozialhilfe kürzt, damit es ja den
Ausländern schlecht geht („Das ist es mir wert!“). Die SPÖ
taumelt ratlos in den Wahlkampf, ihr Aufstiegsnarrativ ist eine
Fiktion. Die ÖVP halluziniert sich eine "schweigende Mehrheit" zusammen, deren Hauptproblem das Gendern und das diktatorische SUV-Verbot in den Innenstädten sein soll.
Und
trotzdem: Bitte nie wieder zurück in die Zeiten, in denen Frauen den
Knechten und Herren gleichermaßen ausgeliefert waren. In denen
Kinder in einer männerdominierten Welt nur umgeben von Frauen
aufwachsen, die sich um sie kümmern. „Sie sind es, die das Leben
in Gang halten. Du siehst es, als kleines Kind, aber du lernst sehr
schnell, dass alles, was die Frauen tun, keine Bedeutung hat.“
Walter Kohl schildert deren Lage sehr, sehr treffend. Insbesondere
die Lebensgeschichte seiner Tante Maria macht wütend.
Foto: Meindl
Schauplatz
der Jugend ist das
ungeliebte Dorf nahe Linz, und eine Aulandschaft, die im Staubereich
der Donau verschwunden ist. Und hier verwandelt sich die Rezension in
etwas anderes. Ich kenne dieses Dorf. Ich kenne das Stiftsgymnasium,
ich kenne ein paar der handelnden Figuren. Ich kenne die Erzählungen
meiner Eltern (die nur sechs Jahre älter als Walter Kohl waren, aber
als unmittelbare Nachkriegskinder viel älter wirkten. Und die aus
noch einfacheren Verhältnissen stammten und einen noch viel
steileren Aufstieg geschafft hatten).
Gerade
deswegen treten mir die Kontraste mit aller Schärfe ins Auge. Kaum
eine Generation später hat sich dieses Schönering in eine
Speckgürtelgemeinde verwandelt, mit Wilia-Bus, Möstl-Markt und
Fußgängerunterführung. Der Vater angehender Oberarzt, die Mutter
halbwegs zufriedene Hausfrau (ein eigenes Kapitel, mein
Kindheitsprivileg). Die älteste Schwester untertags gut im Institut
Hartheim betreut.
Erst
ein neuer Nachbar (übrigens Sohn eines Großbauern) machte mich bei
einem meiner damals (kurz nach der Jahrtausendwende) seltenen
Besuchen Zuhause auf Walter Kohl aufmerksam, dessen Bücher ich bis
dahin nicht gekannt hatte (Schande!). Ich fraß „Spuren in der
Haut“ nachgerade, ich las erschüttert die „Pyramiden von
Hartheim“ und frage mich seither, wie ich so ahnungslos in meinem
Einfamilienhausghetto aufwachsen konnte. Behütet eben.
„Ficken
mit dem Klassenfeind“ ist ein ernster Text voll stiller Wut. Aber
an mindestens einer Stelle ist er so komisch, wie es nur die
nüchterne Beschreibung der Realität sein kann – als der Erzähler
mit einer Gruppe maoistischer Studenten (allesamt rich
kids)
krachend daran scheitert, die Arbeiter an der Kraftwerksbaustelle zu
bekehren.
Am
Ende stellt der Erzähler fest: „Ich habe ein Drittel meines Lebens
falsch gelebt. Jenes Drittel, in dem ich Schriftsteller war.“ Das
ist die einzige Stelle, an der man Walter Josef Kohl vehement
widersprechen möchte: Wir sind froh um dieses Drittel seines Lebens.
Walter Josef Kohl: Ficken
mit dem Klassenfeind. Schriftenstand Verlag, 209 S., 18 €
https://www.isbn.de/buch/9783903250956/ficken-mit-dem-klassenfeind